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Das Weh

Text für Performance mit Hennicker Schmidt und Mystic Choir Collective, Maximiliansforum München, 2023.

 

Das voll und ganz determinierte intelligente Wesen („I.W.“ fortan, wie „Iii Git“ und das „Herz tut mir weh“, oder auch „Wesen“, oder nur „Weh“, je nachdem) hat jede Menge Möglichkeiten, sich zu verhalten (Optionen). Jede Menge. Der Möglichkeitsraum seiner Interaktionen mit der Umgebung ist vergleichsweise sehr groß oder supergroß. Doch das Weh ist einem regelrechten Gestaltungszwang seiner Umgebung gegenüber ausgesetzt. Ein Zwang, eine Notwendigkeit. Es muss seine Umgebung gestalten. Schon weil sich alles dauernd ändert, muss es in die Umgebung eingreifen. Allein die Umgebung zu erhalten, wie sie ist, erfordert bereits jede Menge Energie, die manches Weh auch gar nicht hat. Alles ändert sich dauernd in der Umgebung. Umso älter das Weh ist, desto drastischer erfährt es das titanum-feste Faktum der Veränderung der Umgebung. Das kann schlimm sein bis hin zu verstörend oder unerträglich. Trotzdem bleibt es in der Umgebung und kann nicht ohne weiteres aus der Umgebung heraus und muss also, wohl oder übel, die Umgebung gestalten, bis zum Schluss, in aller Regel.

 

Ob der Sonderfall des absolut nicht gestaltenden Handelns in einer Umgebung existiert, ist umstritten. Siehe unter anderem das Konzept Karma.

 

Umgebung ist hier das, was das Weh nicht als Teil des eigenen Körpers fühlt und das nicht den Signalen des sogenannten Willens gehorcht. Das andere Weh ist Teil der Umgebung des Wehs. Dies gilt aber nur für eine Umgebungsdefinition ohne Magie, sonst nicht. Das Weh kann seine willentlich gesteuerten Arme, Beine und Finger zur Gestaltung der Umgebung benützen, aber auch andere Körperpartien oder den gesamten Körper, sogar den Kopf (also die Kugel) um die Umgebung zu gestalten.

 

Es können leider vielfältige Probleme auftreten, die mit der Grundtatsache des Umgebungsgestaltungszwangs interferieren. Ein Problem ist: Man verbietet dem Weh seine Umgebung zu berühren. Das ist der Standardfall und läuft unter Eigentum von anderen Wehs an der Umgebung. Oft werden ganze Kategorien von Wehs ohne Grund von der Umgebungsberührung ausgeschlossen.

 

Das Weh gestaltet seine Umgebung überwiegend in dem es universell verrechenbare Tauschmittel transferiert. Dazu fingerschlägt es zumeist auf irgendetwas, oft auf eine kalte, glatte Fläche. Oft wischt es dazu auch über die Fläche. Das Wischen darf nicht mit einem Streicheln verwechselt werden. Das Streicheln ist eine wandernde innige Verschmelzung von Haut in Haut, bei der Liebesenergie in beide Richtungen fließt, gleich einer beweglichen elektrischen Verbindung zwischen zwei Leitern. Das Wischen fällt dagegen in die Kategorie des Wegmachens, Bereinigens und Auslöschens von dem was jetzt nicht mehr hier sein soll, was also stört, und aufhören soll zu existieren, zumindest jetzt und hier an dieser Stelle. In anderen Kontexten wird das Wischen deshalb oft mit Chemikalien ausgeführt die Kleinstlebewesen töten, zum Beispiel, in dem sie sie in Säure auflösen. Das Weh fürchtet die treulose Unverbundenheit des Tauschmittels, das zu ihm wie das Schicksal steht: Es kennt das Weh nicht, es hat seine eigene großspurige Agenda und das Weh ist ihm Scheißegal.

 

Ein anderes Problem kann auftreten: Die Umgebung ist vollkommen glatt und hart und enthält nichts, das man Objekt nennen könnte. Also vollkommen harte und glatte Umgebung und gar kein Objekt darin. Menschen bauen Räume, die sich diesem Zustand annähern. Also Ohnmachtskammern an denen das Weh abgleitet oder abstößt. Das sind Umgebungen um das Weh zu schützen und/oder um das Weh zu quälen.

 

Ideal für das Weh ist jedoch eine weiche, feuchte, formbare Umgebung, die nach Verformung am aller besten eine gewisse Formstabilität aufweist. Zum Beispiel eine Umgebung aus Kaugummi.

 

Wenn es eine weiche feuchte formbare Umgebung ist, kann der Umgang mit der Umgebung ein riesiger Spaß sein, ein einsinken, anfassen, bohren, reiben und streichen, das ohne Ende zu sein scheint. Ein herrliches in die Umgebung schmiegen ist möglich, wenn die Umgebung weich und feucht und formbar ist. Das bringt das Weh, wie man sagt, ganz zu sich selbst. Es läßt das Weh eine Einheit mit seiner Umgebung fühlen, die Raum und Zeit verschlingt und auslöscht, so dass sich sogar der Zustand seeligen Nicht-Beobachtens einstellen kann. Das ist der Zustand der totalen Aufhebung der Grenze zwischen Weh und weicher, feuchter, formbarer Umgebung. Das ist es auch, wonach alle Wehs suchen, um sich davon zu befreien, das Weh zu sein, wie allgemein bekannt ist. Das Weh strebt also nach Auflösung in der Umgebung, welche sein Himmel ist und sein Reich der völligen Freiheit, vor allem wenn die Umgebung weich ist und feucht und formbar. Zugleich ist die Auflösung in die Umgebung die größte Angst des Weh, wie man weiß.

 

Das Auflösen in die Umgebung hat also den einen furchtbaren Sinn, von dem heute eigentlich ganz geschwiegen wird, nach Möglichkeit, so weit es geht - und das geht immer besser - aber auch den anderen, der kräftig in Mode ist, so dass ein regelrechter Auflösungstrend mit totaler Auflösungsleugnung und Bekämpfung einhergeht, was unter Umständen nicht lupenrein logisch ist. Allerdings nur unter Umständen oder in bestimmten Hinsichten. Doch Logik wird meistens, ganz allgemein, wenn die Umgebung gestaltet werden soll, auch nicht benötigt. Ganz im Gegenteil, die Logik stört, meistens, vor allem wenn wenige Wehs vielen anderen Wehs erklären wollen, warum mit ihnen dieses und jenes geschieht.

 

Große Gefahren gehen für das Weh von der Scheinauflösung in das Reich der Zeichen aus, dem Land Mordor, das weder weich, noch feucht ist und sich, das sagt bereits alles, hinter einer glatten harten kalten Fläche befindet. Die Scheinauflösung ins Land Mordor gleicht dem Abdriften in das Guru-tum (samt Ausbeutung armer, nach Auflösung suchender Wehs), die die Folge einer halben und/oder schlecht verarbeiteten Erleuchtung sein kann.

 

Um dem Tauschmittelschicksal zu entgehen (siehe oben) träumt das Weh davon, seine Umgebung aus eigener Kraft zu gestalten. Am liebsten in dem es seinen Körper eben mit einer weichen, feuchten und warmen Umgebung verbindet. Aus diesen und anderen Gründen ist das Kneten zum Leitmedium der Ära der digitalen Bezahlsysteme geworden. Die Zukunft wird auf diese Zeit als die Epoche des Knetens zurück blicken. Am Ende kam sogar der knetende Picasso noch zu neuen Ehren. Das Kneten sprengt alles Oben und Unten und Meins und Deins. Im Kneten begegnen sich alle, high and low. Es ist fast zu schön um wahr zu sein und deshalb auch nicht wahr. Gar nicht wahr.

 

Das Weh könnte sich fragen, warum es gestaltet, wenn alles doch zerfließt. Zerfließt in die nicht-Umgebung der großen Nicht-Ordnung (Entropie). Aber es tut es meist nicht, bis hin zu niemals niemals niemals. Ausser traumatisierende Ereignisse stellen sich ein. Ausser bestimmte Schalter im Inneren des Wehs werden umgelegt. Das ist auch besser so. Sonst entsteht leicht ein ernster Widerspruch zu dem Zwang zu gestalten (siehe oben). Dieser Widerspruch tritt wie ein schweres Rätsel an das Weh heran, dessen Lösung, das sieht man eigentlich sofort, die Ausschaltung der Gestaltungsfähigkeit selbst ist. Es müsste ein Weh sein, dass das Weh wegwischt, nicht nur auf der Fläche, sondern in echt und restlos.

Es werden auch noch andere Lösungen angeboten, die auf das Feld Mystik / nicht-Verbalisierbarkeit verweisen. Deshalb soll auch hier nichts verbalisiert werden.

Wenn ein Weh in einen solchen Zustand gerät, das heißt ein bösartiger Attraktor die innere Systemdynamik des Weh einspiralisiert hat, wie der Spülstrudel einer Toilette, wo es sich wünscht, weg gewischt zu werden, und wo es meint, die „Totalität der Fakten“ zu sehen und den „Unauflösbaren inneren Widerspruch“ der darin steckt, oder einfach die 100 meter hohe glasglatte Mauer im Roshi-Sprech, kann als erste Hilfe sicher eine weiche, feuchte, formbare Umgebung angeboten werden.


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